Was hat Darwin mit Erschöpfung zu Tun?
Im Artikel: „Der Ursprung dystopischer Szenarien und ihr Einfluss auf unsere Resilienz“ habe ich dir erörtert, wie die Dystopie das Licht der Welt erblickte.
Sicherlich ist das nicht nur auf die Gedankengänge einer einzelnen Person wie Thomas Robert Malthus zurückzuführen. Doch anhand seiner Geschichte, seines politischen Aufstiegs und des damit verbundenen Einflusses seiner Theorien ist nachvollziehbar, wie Narrative sich verbreiten und unser Gedankengut noch heute beeinflussen.
Hier wird es nämlich spannend: Wir schauen gemeinsam weiter in die Geschichte des 18. Jahrhunderts - einer Zeit des Aufbruchs, neuer Ideen und des Imperialismus. Dieses Mal, geht es darum, wie
die Theorie von Malthus das Denken von Charles Darwin beeinflusste. Und wie seine "Evolutionstheorie" deine und meine Erschöpfung mit hervorbringt.
Darwins Gedankengänge
Vom britischen Nationalökonomen Thomas Malthus hat Darwin den Begriff "Struggle for Existence" übernommen, der in unsere Sprache mit „Kampf ums Dasein“ übersetzt wurde. Für Darwin war das eine
der wesentlichen Inspirationen dafür, die Funktion der natürlichen Auslese in der Evolution der Arten genauer zu untersuchen.
Darwin las Malthus 1838 und hatte dabei seine berühmte Erleuchtung: „Other animals' populations must also be kept low by a struggle for existence, in which only the best adapted survive.“ Zu Deutsch: „Auch die Populationen anderer Tiere müssen durch einen Kampf ums Dasein niedrig gehalten werden, in dem nur die am besten Angepassten überleben.“
Tada: die Konkurrenz ums Überleben kam in die Welt!

Er schlussfolgerte weiter: wenn bei Menschen mehr Nachkommen geboren werden als überleben können (er selbst hatte mit seiner Frau Emma 10 Kinder von denen 3 im Säuglings- oder Kindesalter an Infektionserkrankungen starben), dann muss das bei allen Lebewesen so sein.
Aber wer überlebt?
Seine Idee: Die am besten an ihre Umwelt Angepassten! Daraus entwickelte Darwin seine Theorie der natürlichen Selektion, die gleichzeitig den Konkurrenzgedanken in die Welt brachte. Und dieser prägt bis heute wirtschaftliche, soziale und psychologische Menschen- und Weltbilder.
Wie individiuelle Beobachtung Weltbilder formt
Beide Denker schlossen von spezifischen, lokalen Beobachtungen auf universelle Gesetze. Diese Verallgemeinerung ohne Kontext ist meiner Ansicht nach der Geburtsfehler ihrer Theorien. Sie machten ihre anekdotische Evidenz zu allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten, ganz und gar zu „Naturgesetzen“:
- *Malthus* erlebte das England der industriellen Revolution mit rapider Urbanisierung, schlechten sanitären Verhältnissen und wiederkehrenden Hungersnöten. Selbst erlebte er in seiner Kindheit ebenfalls Hunger und Armut. Er sah außerdem das für ihn explosive Wachstum der Stadtbevölkerung und schloss darauf, dass dies das natürliche Muster sei. Gleichzeitig schaffte er den sozialen Aufstieg von sehr ärmlichen Verhältnissen seiner Herkunftsfamilie in ein wichtiges Staatsamt mit Privilegien und Wohlstand.
- *Darwin* wuchs ein wenig später auf, in einer Zeit, in der die englische Gesellschaft weiterhin von extremer sozialer Ungleichheit geprägt war - der "struggle for existence" (="Kampf um's Überleben) war für die Arbeiterklasse seiner Zeit durchaus real erlebbar. Wobei er selbst aufgrund des ererbten Vermögens in privilegierten Lebensverhältnissen zu Hause war. Doch er musste schmerzlich miterleben, wie drei seiner gemeinsamen Kinder an Infekten verstarben.
- Hier stellt sich für beide aus unterschiedlicher Perspektive die Frage: Natürliche Selektion? „Survival of the fittest?“ Oder einfach nur Glück, Pech - Schicksal?

Was wenn der Ursprung für ihre damals aktuellen Wahrnehumgen zu einem Zeitpunkt lag, der noch viel früher stattgefunden hatte und eine bisher unsichtbare Dimension
einschließt?
Du erinnerst dich: beide Männer machten ihre Beobachtungen aus privilegierten Lebensumständen heraus. Malthus schaffte den Aufstieg aus ärmlichen Verhältnissen und Darwin wuchs bereits
privilegiert auf. Sie hatten Zugang zu Bildung und waren so gut situiert, dass sie keiner „normalen“ Broterwerbstätigkeit nachgehen mussten. Sie konnten den lieben langen Tag nachdenken,
forschen, theoretisieren, schreiben. Es gab jemanden, der sich um alles andere kümmerte – nämlich die Ehefrauen.
Das was sie sahen, waren selbstverständlich sichtbare Phänomene ihrer Zeit und prinzipiell hat sich gar nicht so viel geändert, zumindest wenn wir den Horizont auf den gesamten Planeten
ausweiten. Es gibt nach wie vor Elend, Armut und riesige soziale Ungleichheit. Die Newsticker sind voll von diesen Botschaften.
Eine vergessene Epoche
Doch zurück ins British Empire. Es gab noch ein Davor, was zwar isoliert durchaus Beachtung findet, aber oft nicht im historischen Kontext verknüpft wird.
Trommelwirbel: Ich spreche von der Inquisition, dem gezielten Femizid an Hebammen, Heilerinnen und
Wissenshüterinnen.
Diese ganz normale Frauen, die auf Europas Scheiterhaufen verbrannten, nahmen reproduktives Wissen und weibliche Selbstbestimmung mit in den Tod.
Über Jahrtausende verfügten vor allem Frauen über ausgeklügelte Methoden der Familienplanung:
- Kräuterwissen zur Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbruch,
- ein tiefes Verständnis für natürliche und körperliche Zyklen,
- Stilltechniken zur Geburtenkontrolle,
- Wissen über Gesunderhaltung und Pflege bei Erkrankungen und vor allem auch
- Wissen über Frauengesundheit.
Die Inquisition und der damit verbundene massenhafte Femizid (ca. 1450-1750) zerstörte systematisch dieses Wissen und die Frauen, die es trugen. Über drei Jahrhunderte wüteten die Männer der katholischen Kirche und säten nachhaltig Misstrauen, Aberglauben, Verrat, gegenseitige Denunziation und vertieften die bereits vorhandene Abneigung gegen Frauen.
Mögliche Folgen - das ist meine persönliche Schlussfolgerung:
Was Malthus und Darwin als "natürliche" Bevölkerungsexplosion interpretierten, war eventuell das Resultat dieser "erzwungenen Unwissenheit". Frauen hatten plötzlich keine Kontrolle mehr über ihre Reproduktion. Die Wahlfreiheit für oder gegen Kinder stellte sich so nicht mehr, da es keine wirkliche Wahl mehr gab. Menschen wurden damit systematisch ihrer Selbstbestimmung beraubt.
Stell dir vor...
... wie anders unser Weltbild heute aussehen würde, wenn Darwin und Malthus erkannt hätten:
- dass das wahrgenommene Bevölkerungswachstum mögliche Folge systematisch geraubter reproduktiver Selbstbestimmung ist
- dass der angebliche "Kampf ums Dasein" eine künstlich geschaffene Konkurrenzsituation ist und nur ein kulturell erlerntes Konstrukt, die dystopischen Vorhersagen Malthus’ sind so niemals eingetroffen
- welche Rolle Wissen und Autonomie für eine gesunde gesellschaftliche Entwicklung spielt

Ich glaube, wir würden unsere Welt kaum wiedererkennen und wären sicherlich auch nicht von chronischer Erschöpfung betroffen.
Doch stattdessen prägen Katastrophenszenarien, Dystopien und der Konkurrenzbegriff seit Darwins und Malthus Tagen unser Welt – und Menschenbild. Damit geht einher, dass wir uns selbst häufig als
grundsätzlich „böse“, „animalisch“, „unberechenbar, „hinterhältig“, „egoistisch“ beschreiben.
Doch stimmt das wirklich? Glaubt man den Nachrichtenkanälen, könnte man leicht zu diesem Schluss kommen. Denn was dort gezeigt wird, reproduziert und bestätigt immer wieder diese Annahmen über
das gängige Menschenbild. Und das macht unglaublich müde. Immer wieder die gleichen Bilder von Gewalt, Katastrophen, Konkurrenz, Neid und Missgunst.
Einfach erschöpfend auf allen Ebenen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Malthus' Bevölkerungstheorie und Darwins Evolutionstheorie unbewusst die Folgen systematischer patriarchaler Gewalt als "Naturgesetze"rationalisieren.
Und an den Konsequenzen tragen wir noch heute schwer.
Die Selbstverstärkungschleife
Einmal in die Welt entlassen und als wissenschaftliche Faktenlage etabliert, entwickelte sich daraus, das System, wie wir es heute kennen und es ist selbsterhaltend:
- Ein Konkurrenzsystem erzeugt tatsächlich Stress und Aggression und es brennt uns körperlich, emotional und mental aus
- Diese Befunde werden als "Beweis" für die Theorie genommen
- Kooperatives Verhalten wird unsichtbar gemacht oder umgedeutet
- Neue "wissenschaftliche" Belege stützen das bestehende Narrativ
- Alternative Erklärungen werden als "naiv" diskreditiert
Das Perfide: Das System erzeugt seine eigenen Beweise. Menschen in Konkurrenzsystemen verhalten sich tatsächlich kompetitiver, aber das ist Reaktion, nicht Natur.
Für mich sind das offensichtliche Zusammenhänge. Und sicher gibt es weitere Zusammenhänge, die wir noch nicht sehen, umso wichtiger ist es, dass wir sie gemeinsam erforschen und aufdecken.
Für mich ist außerdem klar: Wer in einem künstlich erzeugten Konkurrenzsystem lebt, verliert langfristig nicht nur körperliche Kraft, sondern auch die Fähigkeit, kreativ, kooperativ und widerstandsfähig zu handeln. Resilienz gedeiht nicht im Überlebenskampf – sie braucht Vertrauen und geteiltes Wissen. Und darum wird es im nächsten Artikel gehen.